«Schmerzh»
wer steckt hinter diesem Duft?
Im September 2024 eröffnet die Künstlern Olivia Wiederkehr neue Perspektiven auf das Thema Erinnerungskultur. Keine Erfolgsgeschichte wird erzählt und keine Skulptur errichtet; stattdessen lässt die Künstlerin die Stadt Zürich über ein ephemeres Element sprechen: Über einen Duft. Düfte können Gefühle hervorrufen und uns an Vergangenes erinnern. In ihrer Kunstinstallation «Schmerzh» überträgt Wiederkehr dieses individuelle Erinnerungsvermögen auf das kollektive Gedächtnis der Stadt Zürich. An den Orten Bullingerplatz, Idaplatz, Lindenplatz, Louis-Favre-Platz, Röschibachplatz und Alter Bahnhof Letten, die mit Ereignissen der jüngeren Vergangenheit in Verbindung stehen, lädt die Künstlerin ein, den Duft unserer Geschichte zu riechen und uns zu erinnern. Dieser Prozess kann auch schmerzvoll sein.
Es erfordere Mut, sich diesem Schmerz auszusetzen, meint die Künstlerin. Sie vertritt die Ansicht, dass Schmerz in der aktuellen Gesellschaft allgemein unterdrückt wird. Über das Gefühl des Schmerzes wird nicht gesprochen, im Gegenteil er wird ignoriert und überblendet. Diese Tabuisierung führt zur Abstumpfung. Um diese aufzulösen, braucht es Worte – eine Sprache, um über Schmerz zu reden.
Für das Projekt hat sich Wiederkehr (auf Einladung der Fachstelle KiöR - Kunst im öffentlichen Raum Stadt Zürich) auf ein Experiment eingelassen und sich für die Konzeption von der Werbe- und Kreativagentur Live Lab beraten lassen. In einem von Wirtschaft geprägtem gesellschaftlichen System gelten diese Agenturen heute als Profis zeitgemässer Sprache und wissen Botschaften gezielt zu übermitteln. In Zusammenarbeit mit Live Lab sowie dem Zürcher Parfumeur Andreas Wilhelm hat Olivia Wiederkehr ein Kunstwerk entwickelt, das mit dem Andenken an die Vergangenheit auch Raum für Emotionen und Gedanken zulässt. Das Projekt setzt bei der biochemischen Kopplung von Gerüchen und Gefühlen an, die im selben Gehirnzentrum verarbeitet und als Erinnerung in unserem Unterbewusstsein gespeichert werden. So erzählt sie in einer intuitiv verständlichen Sprache Zürichs Vergangenheit und lädt ein, diese lokalen Geschichten wie beispielsweise von Gastarbeiter*innen oder der offenen Drogenszene zu erfahren. «Schmerzh» verweist auf wenig bekannte Ereignisse und weckt mittels Dufts daran geknüpfte Erinnerungen.
Die Künstlerin rückt damit einen wichtigen Aspekt des Erinnerns in den Fokus, der in der Diskussion zu Erinnerungskultur noch vielfach ein Tabu ist: Das unterbewusste Auslösen von Empfindungen / Erinnerungen über das Riechen eines Duftes.
Die Künstlerin
Die in Zürich arbeitende Künstlerin Olivia Wiederkehr hat ihre Wurzeln im Tanzbereich und der Szenografie. Ihr Werk umfasst Performances und Installationen, Happenings und Objekte, Plakatarbeiten und Bücher. Zentral für ihre Arbeitsweise sind die gesprochene und geschriebene Sprache bzw. deren Schriftgestaltung, ein differenzierter Umgang mit Materalität sowie Körperlichkeit und Raum. Diese Kategorien treten in unterschiedlichen Intensitäten auf, jeweils abhänging vom Kontext, der seinerseits die gewählte Medialität und «Distribution» in den öffentlichen Raum bestimmt.
In diesen oft auch schillernden Arbeiten sind komplexe Anliegen verpackt, die auf Wiederkehrs Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Aspekten und philosophischen Ansätzen basieren. Wer bin ich in der Welt? Welche Freiheiten und Möglichkeiten zum Handeln sind mir gegeben? Welche Haltung nehme ich gegenüber Kollektiven und ihren Emotionen ein? Bin ich Teil davon oder kann ich mich abgrenzen? Und wie kann mein Denken in eine erfahrbare Situation transformiert werden? Es sind solche Fragen, die das Interesse der Künstlerin an den Schriften von Hannah Arendt geweckt haben, insbesondere deren Texte zur Handlungsfreiheit. Und getreu der von Arendt vertretenen Auffassung des philosophischen Diskurses folgt auch Olivia Wiederkehr den Argumentationsketten bis in gesellschaftliche Tabu-Zonen und Momente der Sprachlosigkeit.
Der grundlegende Glaube an die Welt scheint der Antrieb zu sein, dass Olivia Wiederkehr sich diesen Themen zugewandt hat: Social Distancing und Intimdistanz, die Lesbarkeit von Ritualen und Handlungen, kollektive Vereinbarungen über Angemessenes und Verpöntes, Erlaubtes und Verschwiegenes. Ihre Kritik am Umgang mit genannten Begegnungs- und Kommunikationsformen formuliert die Künstlerin als Einladung, zu diesen gesellschaftspolitischen Fragen Position zu beziehen – oder sie zumindest als solche aufzufassen. Wiederkehr richtet ihren Fokus konkret auf intime Alltagsgefühle wie Angst, Scham oder Schmerz, die in der Schweiz und anderen neoliberal geprägten Ländern vor allem unter ökonomischen Vorzeichen verhandelt werden. Damit greift sie Gedanken von Byung-Chul Han auf, der aktuell eine Art Entgesellschaftlichung von Schmerz postuliert. Mit der Formulierung «Schmerz hat keine Sprache in unserer Gesellschaft» positioniert sich Wiederkehr auf der Seite der Beobachtung. Denn gemäss Aussagelogik ist es der Schmerz, dem etwas nicht zugestanden wird, der keine Kommunikationsmöglichkeit hat. Mit dem Subjektwechsel von einem Wir auf die Emotion selbst spricht die Künstlerin etwas viel Grundlegenderes an als unsere fehlenden Worte. Sie verweist darauf, dass bestimmte Emotionen keine Orte haben ausser die individuelle Psyche (und deren Behandlung). Text: Irene Müller
Mehr Informationen zur Künstlerin hier.
Hintergrund
An welche Aspekte der Vergangenheit erinnert wird, und wie mit diesen Geschichten umgegangen werden soll, bedarf immer wieder aufs Neue einer gesellschaftlichen Diskussion. Auch in Zürich steht aktuell der Umgang mit Erinnerungskultur auf dem Prüfstand und löst teils Kontroversen/Diskussionen/Spannungen aus. Im Mittelpunkt der Debatten stehen u.a. die Denkmäler, die nicht mehr nur als Kunstwerke betrachtet werden. Weit über das künstlerische Artefakt hinaus wirken sie als Symbole einer vermeintlich gemeinschaftlichen/gemeinsamen Erinnerung.
Nicht nur in der Kunst findet eine intensive Auseinandersetzung mit erinnerungskulturellen Fragen statt, auch die Verwaltung der Stadt Zürich und das vom Stadtrat verabschiedete Koordinationsgremium Erinnerungskultur (KoGE) widmet sich derzeit der Ausarbeitung einer Gesamtstrategie «Erinnerungskultur» unter Einbezug externer Fachexpert*innen. Eine erste Fassung soll 2025 vorliegen.
In den letzten Jahren sind zahlreiche Vorstösse aus dem Parlament und aus der Bevölkerung zur Geschichte der Stadt und zum Umgang damit eingegangen. Gefordert wurden beispielsweise historische Studien, die Errichtung von neuen Denkmälern oder die Umbenennung von Strassen. Vor diesem Hintergrund hat der Stadtrat entschieden, sich grundlegend mit dem Thema Erinnerungskultur auseinanderzusetzen.
Den Link zur Auslegeordnung der Erinnerungskultur der Stadt Zürich findest du hier
Um zu erörtern, welche Rolle die Kunst im Spannungsfeld des Erinnerns einnehmen kann, hat KiöR zwei Vertreter*innen künstlerischer Positionen eingeladen, sich in Zürich mit dem Thema zu beschäftigen. Im Zentrum stehen dabei nicht nur Fragen an «was» oder «wen» im öffentlichen Raum erinnert werden soll, sondern auch «wie». Können die heute im öffentlichen Raum anzutreffenden Denkmäler, die oftmals politische Verdienste würdigen, überhaupt noch unsere diverse Gesellschaft spiegeln? Vermag das Narrativ (die Erzählung) für das sie stehen, die Geschichte in all ihren Facetten zu erzählen? Nebst der gestalterischen Umsetzung hat die Kunst die Qualität und die Möglichkeit, eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit anzuregen oder diese zu kommentieren. Um das Thema Denkmalkultur im öffentlichen Bewusstsein zu sensibilisieren und dabei neue künstlerische Herangehensweisen zu erproben, wurden die Schweizer Künstlerin Olivia Wiederkehr und das deutsche Kollektiv PARA eingeladen, im Laufe der Jahre 2024 und 2025 jeweils eine temporäre Kunstintervention für Zürich zu entwickeln. Das daraus resultierende künstlerische Wissen soll in die Strategien der Stadt im Umgang mit Kunst und Erinnerungskultur einfliessen.
Die eingeladenen Partner:innen
Olivia Wiederkehr hat sich auf ein einzigartiges Experiment eingelassen, das Kunst und die Agenturwelt hier zusammengebracht hat. Sonst in der Werbewelt unterwegs, unterstützt die Eventagentur Live Lab das Projekt «Schmerzh» und war Olivias Partnerin bei der Konzeption, der visuellen Gestaltung und der Umsetzung des Projektes. Ein weiterer, wichtiger Partner war der Parfumeur Andreas Wilhelm. Seinen Erfahrungen und Expertise haben die Kreierung des Duftes massgebend beeinflusst. Diese Zusammenarbeit hat von allen Seiten viel Freude, Mut, Neugier und Empathie gebraucht.
Danke!
Ohne Euch wäre mein Duft nicht entstanden. Danke Euch für all eure Unterstützung!
Tiefbauamt Stadt Zürich: Oliver Vetter, Pietro Constanzo, Jorge Manuel Goncalves // Umsetzung Farbkreise: Ursina Klemenz; Pascal Schulz, Fiocchi Farben // Parfüm: Andreas Wilhelm, Wilhelm Perfume GmbH // Texte: Julia Hänni, Stephanie Amstutz, Irene Müller // Inhaltliche Unterstützung: Michael Hiltbrunner, Benjamin Sager, Eva Schumacher, Sandra Kaelin, Siro Torresan, Bernadette Settele, Stefan Ineichen, Stephanie Amstutz, Philipp Meier, Irene Müller, Lukas Bertschi // Live Lab: Melanie Hopp, Miriam Rivas, Jonathan Schwarz, Ralf Stucki, Sarah Gersema, Tatjana Glemser // Kunst im öffentlichen Raum (KiöR): Sara Izzo, Karoliina Elmer, Heiko Schmid, Anna Vetsch, Björn Alfers // Fotografie, Dokumentation: Peter Baracchi